Wir fahren schweigend hinaus aus der Stadt, Tanakas Villa liegt auf dem Lande. Das Abendlicht bricht in den Baumwipfeln und wirft dunkelrotes Licht auf den Asphalt. Aus Blattgrün wird Nachtblau.
Rechts und links der Straße schwingt sich der Bambuswald in die Höhe wie eine gotische Kathedrale. Ich lasse das Autofenster herunter und atme die frische Luft in tiefen Zügen ein. Die Gegend wird hügelig, auf den Terrassen sieht man grüne Reisfelder. Die Landschaft verglüht mit den letzten Sonnenstrahlen. In der Ferne glänzt ein goldenes Dach, es muss die Villa des Präfekten sein, wir erreichen sie bei Anbruch der Dunkelheit.
Kaum steige ich aus der Limousine, reicht mir jemand ein heisses, nach Eukalyptus duftendes Tuch. Plötzlich tauchen mandeläugige Amazonen auf weißen Pferden auf, sie tragen römische Helme, sind mit Leopardenfellen bekleidet und rufen „Salve“.
Ein wenig verunsichert laufe ich die Treppe, die auf der rechten Seite von einer glatten, sich leicht verjüngenden, dunklen Betonmauer eingefasst ist, langsam empor. Ein breites, rotes Band ist in die Stufen eingelassen, die Treppe scheint endlos in die Höhe zu führen. Im Inneren der gläsernen Stufen schwimmen bunte Kois, die mich mit großen Augen anglotzen.
Das große goldene Dach im Pagodenstil schwebt über einer Beton-Konstruktion, die bogenförmig aus dem Fundament wächst, der Präfekt ist kein Freund des rechten Winkels.
Vor dem Portal aus Palisander-Holz steht Tanaka und hört eine Arie aus dem ersten Akt des Don Giovanni:
Auftritt Leporello
Notte e giorno faticar
per chi nulla sa gradir;
piova e vento sopportar,
mangiar male e mal dormir!
Voglio far il gentiluomo,
e non voglio più servir,
no, no, no, no, no, no,
non voglio più servir!
O che caro galantuomo!
Voi star dentro colla bella
ed io far la sentinella!
Voglio far il gentiluomo, etc.
Ma mi par che venga gente…
Non mi voglio far sentir, etc.
Jemand stellt die Musik ab.
„Ah, da ist er ja“.
Während wir uns verbeugen lächle ich und versuche dabei, entwaffnend zu wirken. Für einen kurzen Augenblick betrachte ich wortlos den Präfekten.
Tanaka ist wohlbeleibt und groß gewachsen, sein Körpergewicht scheint ihn bleischwer auf den Boden zu drücken. Sein Gesicht ist rund wie der Vollmond, der soeben über uns aufgeht und hat einen hellen Teint. Unter den buschigen, schwarzen Brauen verbergen sich lebhafte Augen, die mich aufmerksam beobachten. Der Präfekt schätzt elegante Kleidung, sein Anzug changiert zwischen Nachtblau und Silber, darunter sieht man ein, von seinem Bauch gewölbtes, makellos reines, elfenbeinfarbenes Seidenhemd.
Um den Hals trägt der Mann ein Tuch in der gleichen Farbe. Die tiefschwarzen Haare und reichen bis zur Hälfte des Nackens, ich überlege: Natur oder gefärbt?
„Ich freue mich, Sie zu treffen, Herr Präfekt“.
„Mein Lieber, die Ehre ist auf meiner Seite, auf diesen Augenblick warte ich schon lange“, während der Präfekt leise spricht, richtet er seine Augen nach oben.
„Das Treffen kommt ganz unerwartet für mich, lieber Herr Tanaka, erst kürzlich war ich in Tokio, wo ich eher zufällig den alten Tenno getroffen habe“, bei diesen Worten überschlägt sich meine Stimme leicht, ich bin nervös.
„Das weiß ich, es interessiert mich nicht, hören Sie Mozart?“, Tanakas Blick durchbohrt mich.
„Er ist schwer zu spielen“, flüstere ich und senke dabei die Lider, „der Notensatz sieht einfach aus, man muss die Töne unbedingt comme il faut treffen, sonst fällt alles in sich zusammen wie ein Kartenhaus aus Harmonien und Melodien. Ich liebe besonders die Violinsonaten, sie sind brillant, emotional, voller Tiefe und dabei gleichzeitig sehr virtuos“.
Tanaka sieht mich skeptisch an, entspannt sich und sagt lächelnd, fast jovial:
„Gut gesagt, ich habe mir nicht zu viel versprochen, kommen Sie, lassen Sie uns ins Haus gehen und etwas trinken“.
In der Vorhalle könnte man bequem 100 Personen bewirten. Die Wände sind bis zur Hälfte mit Blattgold ausgeschlagen. Darüber ist der Raum zartblau, in gleichmäßigen Abständen sind weiße Kirschblüten von Hand fein aufgemalt, sie werden von skizzenhaften Darstellungen japanischer Landschaften rhythmisch unterbrochen. Ich erkenne den Torii von Miyajima und die Inselwelt von Matsushima in Miyagi. Der Raum ist spärlich mit Möbeln ausgestattet, an der Wand steht eine lange Anrichte aus Ebenholz, darauf ruht ein großes, vielteiliges Imari-Porzellan Tee-Service in Kobaltblau und Safrangelb, dessen Teile sich wohl geordnet über das ganze Möbel verteilen, als gäbe es dafür einen bestimmten Plan.
Auf einem breiten Teppich aus blauer Seide liegen drei große Dalmatiner, die uns gelangweilt aus den Augenwinkeln beobachten.
„Kümmern Sie sich nicht um die Hunde, sie sind das Hobby meiner Frau, sie ist verrückt“. Tanaka seufzt und läuft schnellen Schrittes voran, „ich selbst bevorzuge Katzen“.
Wir betreten den Patio und stehen auf einmal in einem, mit Pflanzen und Bäumen aller Art bewachsenen Regenwald. Drei große blaue Aras schlagen zur Begrüßung mit ihren Flügeln und drehen dann in der Luft elegante Kreise , gegen das helle Mondlicht sehen die Vögel aus, wie große, fliegende Schatten. Wir überqueren eine Brücke, die quer über den Patio führt, an einer Stelle sieht man ein Gehege, etwa zwanzig auf zwanzig Meter groß, darin springen zwei schwarze Panther zwischen einem künstlich angelegten schmalen Flüsschen und steilen Felsen fauchend herum.
Tanaka betrachtet stolz seine Tiere: „Ich habe sie aus Java, sie heißen Hiroshima und Nagasaki“. Nun kenne ich Tanakas Katzen.
Endlich betreten wir das Arbeitszimmer, besser gesagt, die Bibliothek des Präfekten. Ich schätze die Höhe des Raumes auf etwa sechs Meter. Die Wände sind mit Ebenholz-Regalen ausgestattet, in der Mitte werden sie von einer eleganten, schlichten Galerie mit Säulen aus Kirschholz unterbrochen.
Von der Decke ist ein mächtiger, blauer Seiden-Gobelin abgehängt, der sich unmerklich im sanften Luftzug des Raumes wölbt.
Abgebildet sind historische Szenen der japanischen Geschichte. Beleuchtet wird diese Bibliothek von einigen großen Ballons aus Milchglas, die sorgfältig im Raum aufgestellt sind und ein angenehmes Licht verbreiten.
Wie viele Bände hier untergebracht sind, vermag ich nicht zu sagen. Es müssen Abertausende sein, Originalausgaben, Manuskripte, Klassiker der japanischen und europäischen Literatur, Zeitgenössisches, alte Zeitungen, große Mappen mit kunstvollen Stichen aus vergangenen Zeiten.
„Lassen Sie uns einen Imbiss nehmen“.
Wir setzen uns an einen niedrigen schwarzen Lacktisch mit alt-japanischen Samurai Szenen. Eine Geisha im weißen Seidenkimono bringt uns gesenkten Blickes zwei winzige Porzellan-Schüsseln mit Reis und setzt sie in einer fließenden Bewegung vor uns auf den Tisch, ich erhasche einen Blick auf ihr hübsches Gesicht und fühle mich plötzlich sehr entspannt.
„Dieser Reis mit Dashi ist eine Spezialität unseres Hauses“, Tanaka blickt mich versonnen an, „seit Jahrzehnten wird er in diesem Hause auf die gleiche Art und Weise zubereitet, man darf das Rezept keinesfalls verändern“. Ich nehme den Duft auf und probiere. Der Reis ist stundenlang im Dashi erwärmt und hat sich dabei nahezu dematerialisiert. Der übliche, intensive Geschmack der getrockneten Bonitoflocken tritt in den Hintergrund.Ein paar Algen flimmern mit einer fingerhutgroßen Menge Dashi auf der weißen Reismasse.
„Pures Umami, lieber Tanaka, pures Umami, das Gericht ist perfekt, harmonisch und spannend gleichzeitig, ein Meisterwerk“, sage ich anerkennend und führe mir dabei die Stäbchen lustvoll in den Mund.
„Heute Abend wollen wir Kaiseki zelebrieren“, Tanaka lacht bei diesen Worten wie ein großer Junge, der gerade ein Mädchen beim Umziehen in der Strandkabine beobachtet.
Ich mache mich auf etwas gefasst, ein Kaiseki-Mahl kann bis zu vierzehn Gänge beinhalten, darunter sind kleine Appetizer, die Sakizuke genannt werden, es wird Mukozuke geben, das ist eine Art Sashimi mit frischem, saisonalen Fisch. Es wird Gegrilltes geben, Suimono genannt und natürlich immer wieder schmackhafte Suppen.
Ob MadameTanaka auch dabei sein wird?