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Let‘ go on 1.6

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Ich bin erleichtert, dass sie mir diesen Brocken hinwirft. Vielleicht will sie eine Klippe umschiffen, ein Subjekt vermeiden über das sie selbst nicht sprechen will. Ich unterdrücke meine Nervosität und hebe zu einem kleinen Monolog an:

„Man schreibt darüber, weil man das Imaginäre liebt.
Ich erzähle ihnen eine kleine Geschichte dazu.
Vor einigen Jahren war ich in Israel, das Ministerium für Tourismus hatte mich damals eingeladen, damit ich schöne Texte über das Land und das Essen dort schreibe.

Am Flughafen in Tel Aviv stand ein Fahrer mit einer großen weißen Limousine bereit, wir fuhren nach Jerusalem. Dort habe ich mich in einem Hotel mit Kollegen getroffen, allesamt Journalisten und Journalistinnen, die, so wie ich, über die Kunst auf dem Teller schreiben.
Eine offizielle Person stellte uns das Programm für die nächsten Tage vor. Es waren Autoren aus aller Welt da, aus Indien, aus Kanada, aus Japan und aus Russland, vielleicht auch noch aus anderen Ländern, so genau weiß ich das nicht mehr.

Wir sollten die Küche Israels in einem schönen Licht erscheinen lassen, den Geschmack der Speisen in Worte gießen.

Die ersten Tage wurden wir durch allerlei fantastische Restaurants geschleust. Wir haben mit den Köchen gesprochen, fleißig Notizen gemacht, die Kreationen fotografiert und die Qualität der Speisen gelobt.

Eines Abends führte man uns in ein ganz besonderes Viertel in Jerusalem. Es heißt Me’a Sche’arim, die Menschen dort sind meist orthodoxe Juden, chassidische Juden. Es war eine sehr kalte Nacht im November, der Wind zog von den umliegenden Bergen eisig in die Stadt hinein. Die Gegend ist schlecht beleuchtet, die Gebäude wirkten trostlos, viele Häuser sind baufällig, die Straßen in einem schlechten Zustand.

Man betrat eine andere Welt. Die Häuserwände sind dort von oben bis unten mit Plakaten beklebt, auf denen Texte auf Hebräisch zu lesen sind.

Unsere Dolmetscherin hat damals einige dieser Pamphlete für uns übersetzt, in Wahrheit handelt es sich dabei um Annoncen, jedenfalls in den meisten Fällen.
Da steht dann zum Beispiel: „Mein Vater ist am Samstag gestorben, wir trauern, Rabbi Abiram spricht die Gebete, am Montag beginnt das Schiwa-Sitzen“, oder auch ein wenig trivialer „ich habe dich vor langer Zeit am Schabbat vor der Synagoge gesehen, nun wird es Zeit zum Heiraten…“
Oft liest man auch Texte, in denen zum Beispiel mitgeteilt wird, das dieser junge Mann oder jene junge Frau den Wehrdienst verweigert.
Es gibt auch eindeutig regierungsfeindliche Texte, die auf diese Art und Weise publiziert werden. Die Menschen im Viertel sind furchtlos und beständig in ihren Ansichten, sagt uns damals unsere Dolmetscherin.

Mathias

Über den Autor: Mathias Guthmann schreibt unter anderem für kulinarische Zeitschriften und den Schachsport. Seine Essays und Kurzgeschichten haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert. In der freien Wirtschaft berät der Autor eine Firma zu PR-Strategien.

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