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Let‘ go on 1.6

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Ich nehme einen Schluck Weißwein, und esse ein Stück Brot.
Die ganze Zeit hat Nina aufmerksam zugehört, keine einzige Frage gestellt und nur ab und zu an ihrem Glas genippt.

„Meinst du, wir haben den Bezug zur Realität verloren?“, fragt Nina und wechselt unvermittelt zum Du.

„Ja, das haben wir, die sozialen Medien haben uns distanziert, Gräben zwischen uns gezogen. Wir haben dort viele Freunde, die in Wahrheit Feinde sind, weil sie vielleicht wiederum Freunde haben, die Verschwörungstheorien oder faschistische Gedanken verbreiten, das ist absurd. Ein wahrer Freund erfordert deine Aufmerksamkeit, deine Hingabe, dein Interesse, sogar deine Liebe“, bei diesem Satz schaue ich Nina kurz in die Augen und setze fort:
„Ich selbst habe nur wenige, echte Freunde, ich weiß nicht, wie es dir geht.
Mit den sozialen Medien wurde zudem ein Instrument geschaffen, das den falschen Leuten zur falschen Zeit zu viel Macht gibt.“

Es gibt gedämpften Fisch auf Reis. Dazu eine mit Jasmin aromatisierte Sojascauce. Ein mildes Dashi verleiht der Komposition Harmonie.

„Eine gute Geschichte“, sagt Nina und betrachtet mich dabei mir ihren schönen, smaragdgrünen Augen.
Schweigsam genieße ich das kleine Kaiseki-Kunstwerk vor mir auf dem Tisch.
„Es geht in deinen Texten um Leidenschaft, jedenfalls empfinde ich das so“, sagt Nina mit einem ausdrucksvollen, kleinen Lächeln.

„Ich kann dich morgen leider nicht begleiten, Kaito will es nicht, du wirst dieses Päckchen alleine übergeben müssen. Danach treffen wir uns hier, ich warte auf dich, wenn du willst zeige ich dir die Stadt, ich kenne Straßen und Restaurants und andere Orte, die du noch nie gesehen hast.“

Meine Phantasie spielt mir beim Anblick Ninas einen Streich. Eine Begierde, die ich in diesem Augenblick lieber auf die Insel der verbotenen Gedanken verbannen würde, kroch in mein Gehirn, wie eine Schlange, die lautlos durchs Gras schleicht.
Es widerstrebt mir, diesen Auftrag erledigen, ich weiß nicht, um was es geht, ich weiß nicht, wie ich empfangen werde und ich weiß nicht, ob ich da lebend rauskomme. Mein Gefühl sagt mir, dass an dieser Sache etwas nicht stimmt. Ich habe tausend Fragen, die ich lauthals stellen sollte, sobald ich Nina sehe, verstummen sie, werden zu Hirngespinsten, zu Nebensächlichkeiten.

Frauen haben hypnotische Fähigkeiten, die meisten wissen das auch.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen sagt Nina plötzlich ganz leise:
„Wir werden diese Nacht zusammen verbringen und morgen wirst du alles in einem anderen Licht sehen, mach dir keine Sorgen, alles wird gut.“

Ich weiß, dass wahrscheinlich nichts davon stimmt, bringe aber kein Wort mehr über die Lippen.

Mathias

Über den Autor: Mathias Guthmann schreibt unter anderem für kulinarische Zeitschriften und den Schachsport. Seine Essays und Kurzgeschichten haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert. In der freien Wirtschaft berät der Autor eine Firma zu PR-Strategien.

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